21. Oktober 2022 | Bauernzeitung: Was bitte schön trägt eine Bäuerin?

21. Oktober 2022: Was bitte schön trägt eine Bäuerin?

Wir sind eingeladen. Ich weiss, dass wir an diesem Anlass viele Bauernfamilien treffen werden und dass uns ein lustiger, geselliger Abend bevorsteht. Unentschlossen stehe ich vor dem Garderobenschrank. Soll ich den roten Mantel anziehen? Darf ich den roten Mantel anziehen? Müsste ich mich vielleicht eher für die schwarze, nüchterne und neutrale Softshelljacke entscheiden? Der rote Mantel hingegen würde zu meinen roten Schuhen passen und mir wäre grad so drum. Aber er fällt auf. Würde ich mich für ihn entscheiden, müsste ich dann auch eine andere Schuhwahl treffen? Ja, solche Fragen stelle ich mir manchmal. Ich überlege lange. Wieso eigentlich? Wieso eigentlich, frage ich mich und schlüpfe in den Mantel. Er ist weich, bequem und vor allem ein Farbtupfer an diesem tristen Regentag. Zudem ist Rot meine Lieblingsfarbe. So fahren wir zum Ort des Geschehens. Wie angenommen, wird der Abend sehr lustig.

Bäuerliche Pleiten, Pech und Pannen werden ausgetauscht. Es wird viel gelacht und diese entspannte Atmosphäre tut allen gut. Eine Insel im Alltag. Tatsächlich haben alle Anwesenden einen Hof zu Hause. Von Bio über konventionell, von Direktvermarktung über Agrotourismus ist alles vertreten. Spannend, lehrreich, farbig und wie gesagt, überaus erheiternd. Eine Woche später treffe ich einen der Bauern auf der Strasse. Wir halten einen Schwatz. Gerne denken wir an diesen Abend zurück und lassen ihn nochmals Revue passieren. In Erinnerungen schwelgend, meint er plötzlich, diese Kathrin hätte aber auch nicht ausgesehen wie eine Bäuerin.

Ihre Erscheinung, ihre Haltung, ihre Kleidung, alles sei anders gewesen. «Hä?!», denke ich. Wie bitte sieht eine Bäuerin denn aus? Und wie sieht eine Bäuerin nicht aus? Was heisst, wie eine Bäuerin aussehen oder eben nicht? Stecken wir in solchen Klischees fest, auch noch im Jahr 2022? Ich bin einigermassen erstaunt ob dieser Aussage und beginne zu grübeln. Leider muss ich mir eingestehen, dass ich nicht besser bin. Mein Spiegel fragt mich, ob nicht ich das gewesen sei, die sich lange überlegt habe, was sie an dieses Fest anziehen solle. Zähneknirschend gebe ich dieser ekelhaften Stimme in meinem Ohr recht. Ja, ja, ich frage mich auch manchmal, wo welche Kleidung angebracht ist. Und ja, ich beurteile Menschen ab und an nach ihrer Garderobe und stecke sie in eine Schublade. Leben und leben lassen. Eigentlich wäre es einfach. Doch sind wir ehrlich: Wer von uns ist nicht schon in diese Kleider-Klischee-Falle getappt? Heute packe ich ohne zu zögern den roten Mantel. Wir fahren an eine bäuerliche Ausstellung. Sie ist in der Stadt.

 

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